Zwischentöne

Aufzeichnung des Deutschlandradio Berlin vom 10.11.2002
Interviewer ist Dr. Joachim Scholl

Sch.: Die Zwischentöne kommen heute aus Berlin und wir haben Besuch aus dem
Ruhrgebiet. Dort ist unser Gast geboren und aufgewachsen. Sie lebt auch da, ihr
Beruf hat sie allerdings rund um die Welt geführt. Die Musik ist ihr Metier und vor
allem die Leidenschaft für den Jazz hat sie über die Branche hinaus bekannt
gemacht. Sie ist die erste und einzige Jazzprofessorin in Europa und ihre Auftritte
und Engagements dafür haben ihr allerlei liebevolle Beinamen verschafft. Der
Jazztaifun wurde sie genannt, Jazzmutter der Nation, Mutter Courage des Jazz, ihre
Fans sagen einfach Swinging Ilse. Wir heißen herzlich willkommen bei den
Zwischentönen Frau Professor Ilse Storb.
S.: Es gibt noch den Ausdruck "Halleluja Ilse", weil ich manchmal gerne statt Guten
Morgen Halleluja sage, was ja aus dem Gospelbereich kommt.
Sch.: Sind Sie immer noch die einzige Jazzprofessorin? Inzwischen sind Sie
emeritiert. Hat Ihr Beispiel Schule gemacht?
S.: Ich hatte gestern Abend eine Diskussion mit einer Jazzprofessorin für
Jazzgesang, auf diesem Gebiet gibt es schon eine ganze Reihe von Professorinnen,
aber für Jazzforschung bin ich immer noch die einzige. Man möge sich einmal bei
mir melden, falls es eine zweite Jazzresearch Professorin gibt in Europa. Ich wäre
sehr neugierig.
Sch.: Der Jazz ist immer noch eine Männerdomäne. Es gibt auch nicht so viele
bekannte Jazzmusikerinnen.
S.: Ich gehe sogar noch weiter zu sagen: the whole world is men-dominated! Und
jetzt wird es ein bisschen offensiv: 6000 Jahre Männerherrschaft und 6000 Jahre
Krieg, da heißt es dann immer, wenn die Frauen an die Macht kommen, wird es so
ähnlich sein. Ich wurde in New York bei einer Einladung der IAJE, der International
Association of Jazz Educators, von einem Londoner Kollegen gefragt: why are so
few women in Jazz? Und da war die Antwort die gleiche. Man ist ja jetzt dabei, die
Frauen mehr im Bereich Jazz kommen zu lassen. In Skandinavien ist es anders, in
Amerika ist es anders, da gibt es Frauenjazzbands, z.B. die No Man Bigband, was
ich "bekloppt" finde, weil ich denke, Männer sind auch Menschen und man sollte
eigentlich partnerschaftlich zusammenarbeiten. In Deutschland an den Musikschulen,
wo ich auch Forschungen betrieben habe, ist das ein großes Problem, weil
die Mädchen immer Blockflöte, Geige und Klavier spielen sollen, Cello um Gottes
Willen! Da musst du ja schon die Beine breit machen! Die deutschen "Muttchen", man
möge mir das verzeihen, sind sehr oft dagegen. Ich komme ja aus dem universitären
Bereich und der ist auch ein Männerbereich. Als ich 1975 zum ersten Mal Dekanin
wurde, habe ich gedacht: du machst das jetzt lieblich und freundlich und humorvoll.
Aber Sie erreichen nichts, wenn Sie sich partnerschaftlich benehmen. Sie werden
nicht einmal respektiert. Mir persönlich ist der Titel egal, wenn ich mich jedoch nur
mit meinem Namen melde bei Ministerien, bei Hochschulen, dann gelte ich
automatisch als Vorzimmerdame, als Sekretärin und kann nichts bewirken.
Sch.: Von Ihnen gibt es den Ausspruch: Jetzt muss er her, der Professorentitel.
S.: Ja, das war in Mexiko, wo ich einer Professorin aus Hawaii das Abendessen
aufgegessen hatte, aber da kam man an den Katzentisch, man durfte nicht mit den
Professoren zusammen speisen. Daraufhin habe ich dann gesagt: jetzt ist Schluss,
jetzt muss der Titel her, um etwas bewirken zu können. Mir geht es wirklich um die
Sache.
Sch.: Der korrekte Titel lautet "Professorin für Systematische Musikwissenschaft und
Jazzforschung". Was ist systematische Musikwissenschaft?
S.: Als ein Kollege diesen sehr anspruchsvollen Titel vorgeschlagen hat, habe ich
keinen Einspruch erhoben. Es gehören mindestens vier Gebiete dazu: Musiksoziologie,
Musikästhetik, Musikpsychologie und Musikethnologie. So viele Gebiete kann
man gar nicht abdecken. Durch den Jazz kam ich dann sehr schnell in die Gebiete
der Musikethnologie und Musiksoziologie wegen der Rassendiskriminierung und der
Ursprünge des Jazz in Afrika. Ich habe sehr viele interdisziplinäre Seminare zusammen
mit Kollegen aus der Sprach- und Sozialwissenschaft gehalten über Rassismus,
Sexismus, Neofaschismus.
Sch.: Wie hat man sich die Ausbildung an der Gerhard-Mercator-Universität
vorzustellen? Ist das jenseits der Soziologie und Notenkunde auch eine Ausbildung
zum Musiker?
S.: In der Ausbildung waren hauptsächlich Schulmusiker, also Lehrer, die aus
diesem Jazzlabor hervorgegangen sind. Ich war sehr glücklich, dass ich diese
zukünftigen Schulmusiker "zweisprachig" ausbilden konnte, nämlich in Klassik und in
Jazz. Es konnte auch promoviert werden. Viele sind in das Jazzlabor gegangen, weil
die Aufnahmeprüfungen an den Musikhochschulen sehr sehr schwer sind, meine
eigene liegt schon 50 Jahre zurück, und haben das Jazzlabor benutzt als eine Art
Sprungbrett für eine Musikhochschule. Ich habe gar nichts dagegen. Viele der
Studenten sind dann doch nicht in die Schule gegangen, was ich eigentlich jetzt im
Zeitalter von PISA bedauere. Von den sechs Mitgliedern der "Satchmos" sind vier in
die Schule gegangen, einer ist Manager geworden, einer ist Musiker geworden und
tritt mit den Missfits auf - warum nicht auch mal Kabarett - und ähnliche Berufe.
Manche spalten das auch, unterrichten und sind außerdem noch freie Musiker. Die
Ausbildung war also praktisch, theoretisch und didaktisch-methodisch.
Sch.: Über die bereits gefallenen Begriffe "Jazzlabor" und "Satchmos" wollen wir
noch ausführlich sprechen. Die Musik hat heute einen besonderen Stellenwert und
wir nutzen diese Gelegenheit, Ilse Storb mit ihrer Band "Ilse and her Satchmos" auch
musikalisch vorzustellen. Wir hören Ilse Storb am Mikrofon mit "I can' t give you
anything but Love, Baby".
Es ist ja auch ein bisschen verwegen, den guten Louis Armstrong zu singen.
S.: Ein Grazer Jazzforscher sagte einmal zu mir: aha, ein weiblicher Louis
Armstrong! Der Saxophonist Ralf Bazzanella,der auch bei mir Examen gemacht hat
und jetzt bei den Missfits auftritt, u.a., machte mir den Vorschlag, doch selber bei
den "Satchmos" zu singen. Ich meinte zunächst, das ginge doch nicht trotz meiner
klassischen Gesangsausbildung. Der nächste Auftritt war in Essen bei mir direkt um
die Ecke an der Folkwang-Hochschule und ich habe mich nicht getraut. Ich habe
aber kleine Einlagen und Tänze eingebaut. Der nächste Auftritt war am Niederrhein,
da habe ich gedacht: jetzt probierst du es einmal zu singen und wenn die Leute mit
Tomaten werfen ist Schluss mit der Veranstaltung. Doch die fanden es so prima,
dass ich es bis heute weitermache. Der letzte Auftritt war beim "Stollberger
Musiksommer". Wir bekamen eine wunderbare Kritik, was nicht immer der Fall ist.
Wer kritisiert die Kritiker, nicht wahr? Voriges Jahr sind wir nicht in die aber über die
Semperoper nach Großenhain eingeladen worden und hatten dort zwei wunderschöne
Auftritte. Die "Satchmos" wird es auf jeden Fall noch weiter geben.
Sch.: Wer weiß, vielleicht klingelt ja nach der Sendung bei Ihnen das Telefon! Ihr
Auftritt hat auch einen akademischen Hintergrund, denn Sie sind eine der bekannten
Armstrong Forscherinnen. Sie haben eine Biographie über ihn geschrieben. Was ist
das Faszinierende gerade an seiner Musik? Wie sind Sie auf ihn gekommen?
S.: Das hat verlagstechnische Gründe. Ich habe 17 Jahre lang geforscht über Dave
Brubeck und die Habilitationsschrift verfasst. Ich wollte dem Rowohlt-Verlag ein
Taschenbuch über Brubeck anbieten, denn in der Reihe Rororo Bildmonographien
gab es keinen einzigen Jazzer. Doch Rowohlt meinte, dass Brubeck doch keiner
kenne und ich solle ein Buch über Armstrong schreiben. Über Armstrong hatte ich
aber noch kein Wort stehen und ein Pianist wäre mir lieber gewesen, denn ich bin
keine Trompeterin. Aber ich hatte einen Vertrag mit Rowohlt aufgrund verschiedener
anderer Unterlagen und beschloss, noch mal von vorne anzufangen. Und Louis
Armstrong hat es wirklich verdient! Mein Buch über ihn beginnt mit dem Armstrong
Satz: " I like to make people happy". Diesen Satz zitiere ich immer bei meinen Shows
und die Leute freuen sich. Einige andere Sätze, die ich für wichtig halte, sind:
"I don' t care about money. I don' t care about famous", also Geld und Ruhm sind mir
egal und " God loves the poor but not the lazy", Gott liebt die Armen aber nicht die
Faulen.
Sch.: Als ich die musiktheoretisch sehr fundierte Biographie las mit den vielen
Notenbeispielen spürte ich die große Kenntnis und auch die Leidenschaft für diese
Musik, die Sie als Autorin umtreibt und dachte: das ist doch sicher die erste Analyse
seiner Musik überhaupt, also wie er Noten setzt, wie er phrasiert auf der Trompete.
Und es ist ja nicht unbedingt normales biographisches Geschäft, dass man sich da
so gut auskennt. Haben Sie Armstrong auch sozusagen entdeckt als großen
Musiker?
S.: Ja! Nach meiner Dissertation über Debussy und der Habilitationsschrift über
Brubeck dachte ich: jetzt schreibst du lauter wissenschaftliche Arbeiten und kein
Mensch versteht dich mehr. Rowohlt hatte mir gesagt, dass ich die wissenschaftlichen
Analysen sehr wohl machen könne, aber ich solle auch popular-, ich sage
bewusst nicht populär-, popularwissenschaftliche Aspekte mit einbringen, so dass es
ein interessierter Laie versteht. Ich habe lange mit der Internationalen Gesellschaft
für Jazzforschung in Graz und dem Vorsitzenden, Herrn Prof. Dr. Alfons M. Dauer,
zusammengearbeitet, der mich auf verschiedene Veröffentlichungen über Armstrong
hinwies. In der Library of Congress in Washington fand ich ungefähr zwölf Bücher,
aber es gab kaum Analysen. Ich hatte also das "Ei des Damokles" vor mir, nämlich
zu verbinden eine nicht zu schwierige Analyse - meine Vorgabe war z.B. die
Subdominante als zu kompliziert unbehandelt zu lassen - mit interessantem Material
über den Menschen Armstrong.
Sch.: Sie haben Ihren ungewöhnlichen Karriereweg so beschrieben: von der Klassik
zum Jazz zur Weltmusik. Ich würde gerne auf die Anfänge zurückkommen und wie
es losging mit der Musikerin Ilse Storb. Sie sind Jahrgang 1929 und das ist ein
Jahrgang, der einiges durchgemacht hat. Wie haben Sie Ihre Kindheit und Jugend
erlebt?
S.: Das war in der Tat eine schwierige Periode. Ich war zehn Jahre alt, als der Krieg
anfing, hatte aber bis dahin eine glückliche Kindheit, weil ich auf einem Bauernhof
zwischen vielen Tieren aufgewachsen bin. Aber Essen ist Krupp und Krupp ist Essen
- ich wohne heute noch an der Haltestelle Krupp-Allee und habe viele
Bombenangriffe erlebt. Direkt bei uns gegenüber wohnte der Gauleiter Terboven, der
Norwegen beherrscht hat und auch Hitler oft zu Besuch hatte. Wir waren also sechs
Jahre lang den Bombenangriffen ausgesetzt, rannten zunächst in den Keller, später
dann in den Bunker. Außerdem gab es nichts zu essen. Durch den Bauernhof ging
das noch, denn einmal im Jahr durfte ein Schwein geschlachtet werden, nicht öfter,
sonst war man ein Volksfeind. An das Schwarzschlachtverbot haben wir uns auch
strikt gehalten und die ganze Familie musste von dem einen Schwein ein Jahr lang
leben. Mein Bruder Fritz wurde nach Rußland geschickt und hat im Mittelabschnitt
der Front in Rchew beide Beine verloren, kam ohne Beine nach Hause. Das war ein
Drama nicht nur für ihn, sondern für die ganze Familie.
Sch.: Wie war es unter diesen schwierigen Umständen möglich, dass die Musik in
Ihr Leben trat? Wie kamen Sie an Klavierstunden?
S.: Ich muss meine Mutter - Gott hab sie selig - erwähnen. Sie hat während der
Schwangerschaft mit mir immer Klavier gespielt. Sie hatte auch 1913 schon einen
Beruf, sie war Telegrafensekretärin, und Morsen gehörte zu ihren Tätigkeiten. Als ich
aufwuchs, sagte sie zu mir: Kind, du studierst Musik, die Kerle hauen immer ab aber
die Musik bleibt dir. Und da ist etwas Wahres dran, auch wenn ich nicht
männerfeindlich bin. Also gab es Klavierstunden, bei denen meine Mutter mit einem
Vokabelheftchen daneben saß, festhielt und darauf achtete, dass ich auch wirklich
eine ganze Stunde am Klavier saß. Draußen liefen die Kinder herum, spielten und
riefen mich immer heraus. Als ich 13 Jahre alt war und Beethoven-Sonaten spielen
konnte, war mir klar: du studierst Musik! 1943 wurde unser schönes altes Bauernhaus
durch eine einzige Luftmine völlig zerstört. Das Haus war von 1780 und der
Kommentar meines Onkels Karl war: sic transit gloria mundi, so vergeht der Ruhm
der Welt. Meine größte Sorge war das Klavier, das wir aber retten konnten. Es war
voller Splitter, aber auf diesem, noch von meinem Großvater stammenden Klavier
habe ich dann später an der Musikhochschule mein Staatsexamen gemacht.
Sch.: Sie haben in Köln und später dann an der Sorbonne studiert. Das hört sich
nach einem Sprung an. Jenseits des Wunsches, solide Musiklehrerin zu werden, war
da schon mehr bei Ihnen.
S.: Ja. Ich hatte einen wunderbaren Französischlehrer, den leider sehr früh
verunglückten Herrn Tielmann, und so kam ich zu meinem zweiten Studienfach,
denn in Deutschland muss man neben dem Fach Musik noch ein weiteres,
wissenschaftliches Fach studieren. Das halte ich auch für gut. Bevor ich nach Paris
aufbrach, wurde ich als Tochter des Volksschullehrers, der ganz Essen-Bredeney
unterrichtet hatte, von allen Leuten gewarnt vor dem Sündenbabel und der Gefahr,
mit einem Kind nach Hause zu kommen. Da wurde ich wütend und erwiderte: ihr
habt mich nicht aufgeklärt und ich musste den Großen Brockhaus von Vater zu Hilfe
nehmen, um mich selber aufzuklären. Auch der Hausarzt meinte, auch in Essen
kann man schwanger werden. Also fuhr ich nach Paris und bei meinem ersten Gang
über den Boulevard St. Michel sah ich überall fröhliche Studenten und spürte die von
Deutschland so verschiedene Atmosphäre. Die Deutschen sind ja immer noch so
streng und ernst, auch in der Wissenschaft, aber man kann auch fröhliche
Wissenschaft betreiben. Da ich wenig Geld hatte, wohnte ich zunächst au pair bei
einer Familie, habe Altpapier gesammelt, um Geld dazu zu verdienen. Von diesen
Gängen durch die Straßen mit der Aufforderung, das Altpapier abzugeben, kenne ich
Paris sehr gut. Paris bedeutete für mich eine erste Befreiung.
Sch.: Claude Debussy wurde Ihre große Liebe und Sie haben über ihn promoviert.
Wie kam es dazu?
S.: Das war auch eine große Offenbarung für mich. An der Musikhochschule Köln
studierte ich Schulmusik mit dem Schwerpunkt Klavier. Im Examen muss man eine
ganze Stunde lang ein Konzert spielen, Bach, Beethoven, Brahms, Schubert. Ich
kam mit Debussy in Verbindung über sein Stück "Jardins sous la pluie", Gärten im
Regen. Das war für mich eine musikalische Offenbarung, weil dort statt der
kadenzartigen Gegenakkorde der Klassik auf einmal Parallelakkorde waren, d.h.
eine musikalische und auch eine mentale Öffnung. Mit dieser phantastischen Musik
wollte ich mich beschäftigen und das kann man am besten in Paris. Das Thema der
Dissertation war: Die Auflösung der funktionalen Harmonik in den Klavierwerken von
Claude Debussy. Mein Doktorvater in Köln war Prof. Dr. Fellerer. Heute würde ich
nicht mehr den Begriff Auflösung wählen, sondern von der Befreiung von der
funktionalen Harmonik sprechen und von der Hinführung zu der Öffnung durch
Ganztonleiter und Parallelakkorde und ähnliche Dinge.
Sch.: Sie haben sich noch ein Musikstück ausgesucht, das Klavierkonzert A-Moll
von Robert Schumann. Was hat es aus der Sicht der Musikprofessorin und
Musikliebhaberin mit dessen Musik auf sich?
S.: Man will natürlich weltberühmte Pianistin werden, bis man sieht, andere könne
auch was und noch mehr. Mir wurde von meinem Doktorvater ein Empfehlungsschreiben
an Monique Haas mitgegeben, bei der ich weiter Klavier studieren wollte.
Ich hatte sie das Klavierkonzert A-Moll spielen gehört und suchte sie auf. Sie meinte,
sie sei ja die ganze Zeit auf Tournee, aber sie könne mir zwei Referenzen geben:
Vlado Perlemuter, ein persönlicher Freund von Ravel, bei dem ich dann auch Ravel
studiert habe, praktisch vor allen Dingen und Yvonne Lefébure, bei der ich Debussy-
Unterricht bekommen habe.
Sch.: Hier das Klavierkonzert A-Moll opus 54 von Schumann unter Leitung von
Claudio Abado.
Jetzt unser Gast am Klavier mit einem Stück von Dave Brubeck: The Duke meets
Darius Milhaud and Arnold Schönberg.
S.: Dieses Stück habe ich Dave Brubeck vorgespielt, nachdem ich die Laudatio auf
ihn gehalten hatte aus Anlaß der Ehrendoktorverleihung an Dave Brubeck durch die
Gerhard-Mercator-Universität Duisburg am 1. Mai 1994. Ich hatte jahrelang für diesen
Akt gearbeitet, denn Deutschland und der Jazz sind immer noch zwei Welten. An
einer technischen Hochschule ist das besonders schwierig. Jetzt zu dem eben
gehörten Stück. Mit "The Duke" ist Duke Ellington gemeint; Darius Milhaud und
Arnold Schönberg sind beide Komponisten und Lehrer, bei denen Brubeck studiert
hatte. Zu Schönberg gibt es eine herrliche Geschichte, die Brubeck mir selber erzählt
hat, als ich bei ihm zu Besuch war und bei ihm wohnen konnte: der junge Brubeck
dachte, er müsse sich auch mal um die sog. ernste Musik und die Zwölfton-Musik
kümmern. Er ging also zu Schönberg, spielte ihm etwas vor und in der zweiten
Stunde spielte er Jazz. Schönberg fragte ihn: Warum spielen Sie denn diese Note
und jene Note? Und Brubeck, der von Debussy und vom Ohr herkam antwortete:
weil es gut klingt. Schönberg hat sich furchtbar aufgeregt, weil das kein Grund sei,
hat den Schrank geöffnet, auf alle Symphonien von Beethoven, Schubert,
Schumann, Bruckner und Mahler verwiesen und gesagt: ich bin derjenige, der weiß
wie gespielt und komponiert werden muss, und ich erwarte, dass Du Dich daran
hältst. Daraufhin ist der junge Brubeck nicht mehr zu Schönberg gegangen. Danach
kam er zu dem Franzosen Darius Milhaud ans Mills College in Oakland, Kalifornien,
wo ich auch über Brubeck geforscht habe. Der Assistent Milhauds war Brubecks
Bruder, Howard Brubeck, ein klassischer Komponist, der die ganzen zeitaufwändigen Transpositionen erstellt hat. Milhaud fragte Dave Brubeck nach seinen
musikalischen Wurzeln: wenn Du vom Jazz kommst, bleib dabei, wenn Du von der
brasilianischen Musik kommst, bleib dabei. Brubeck wollte eigentlich ein klassischer
europäischer Komponist werden. Er hat aber eine Reihe von Kompositionen mit
symphonischer Musik geschrieben und es gibt auch Zwölfton-Musik bei ihm in dem
Oratorium "The Light and the Wilderness".
Sch.: Zurück zu Ihnen, die Sie Duke Ellington persönlich getroffen haben. Das war
das große Erweckungserlebnis für Sie?
S.: Ja. Ich möchte noch vorwegschicken die Internationale Gesellschaft für
Jazzforschung in Graz. Ich kam 1968 an die damalige PH Ruhr, Abteilung Duisburg,
und sah ein Riesenplakat mit der Aufschrift: Musikwissenschaft und Jazz. Ich dachte,
Musikwissenschaft kennst du als retrograd, als rückwärtsgewandt, das wird ja "Mord
und Totschlag" geben. Als neugieriger Mensch wollte ich mir diese Veranstaltung
unbedingt ansehen und anhören. Es war die Gründung der Internationalen
Gesellschaft für Jazzforschung in Graz, Austria. Ich habe mich ganz ruhig verhalten,
denn die Namen Charlie Mingus oder Gerry Mulligan hatte ich noch nie gehört
während meiner Ausbildung an Mozart, Bach, Beethoven, Brahms. Anwesend war
auch Herr Prof. Dr. Rauhe, Präsident der Musikschule Hamburg, den ich bereits von
musikpädagogischen Kongressen kannte. Er sagte zu mir: Sie, Sie, Sie machen
Jazz und Pädagogik! Ich kratzte mir den Hinterkopf und dachte: Pädagogik, d.h.
andern gegen ihren Willen etwas beibringen - die Pädagogen mögen mir verzeihen -
das hast du schon oft gemacht in elf Jahren Gymnasium, aber Jazz? Keine Ahnung!
Wie machst du das bloß? Jemand anders sagte noch: Jazz ist Live-Musik! Ich
dachte, nichts wie hin zum Berliner Jazzfestival 1969 anlässlich des siebzigsten
Geburtstags von Duke Ellington. Ich hatte Pressekarten und "I got four kisses from
the Duke". Ich hörte live u.a. Thelonius Monk in der Philharmonie. Ich fing an zu
beten: Ave Maria, gratia plena, weil ich dachte, dass der gleich rausgeworfen würde
aus der Philharmonie. Ich hatte keine Ahnung bis dahin von seinem Stil und für mich
war das unzusammenhängend wegen der vielen Dissonanzen. Nachdem ich in die
Jazzforschung eingestiegen war, habe ich begriffen, dass das der Monksche Stil
war. In Berlin spielten auch Joachim Kühn und Cecil Taylor, und ich merkte, was für
eine wahnsinnig lebendige Musik das war, die meistens - leider - in der Klassik fehlt.
Ich fand, dass das in die Musiklehrerausbildung an der Universität Duisburg hinein
müsse. Diesem Zweck diente das von mir 1971 gegründete Jazzlabor.
Sch.: In den 50er Jahren waren Sie eine junge Frau und Studentin. Da wird man
doch Jazzmusik mal gehört haben beim Tanzen z.B. Sie sagen, der Jazz kam
plötzlich aus dem Off zu Ihnen geschwappt. War es wirklich so, dass man bei der
klassischen Ausbildung keinen Blick und kein Ohr für das andere hatte?
S.: Jazz war sozusagen noch verboten an der Musikhochschule. Selbst ich habe
noch in Duisburg erlebt, dass von mir engagierte Gesangslehrer sich weigerten,
Jazzgesang zu unterrichten. Es gab damals in den 50er Jahren Jazz praktisch nur
Underground an der Musikhochschule. Ich sehe mich noch neben Karl-Heinz Buhne
stehen, der später an Gymnasien viele Big Bands und Jazzchöre gegründet hat, und
ihn fragen, wie er das denn mache mit diesen Akkorden. Die Jazzmusiker waren
eigentlich meistens Autodidakten, die hörten sich Schallplatten an setzten das
Gehörte um. Der Gedanke an Jazz als entarteter Niggermusik war untergründig
immer noch vorhanden. Ich hatte nichts gegen Jazz, habe mir auch in Paris
backstage ein Autogramm von Louis Armstrong geben lassen, war aber total auf
Klassik fixiert.
Sch.: Wann haben Sie denn zum ersten Mal selber gejazzt? Das muss man doch
auch lernen oder können und nicht einfach vom Blatt spielen, sondern den
Rhythmus und swing improvisieren. Wann ging das los?
S.: Ich würde mich nicht als Jazzpianistin sondern als Jazzforscherin bezeichnen,
die als klassische Pianistin auch Jazz spielt. Ich habe mit den Studenten zusammen
gelernt, auch im Jazzlabor, wo ich lange zugehört habe, denn man hat auch Ängste.
Die Studenten kamen von der Rockmusik und vom Jazz und dann setz` dich mal
daneben. Ich erinnere mich an Helge Schneider, der im Jazzlabor Praxis studiert hat,
und bei mir Examen machen wollte. Ich musste einfach anfangen und lernen Jazz zu
improvisieren und hatte z.T. Studenten neben mir sitzen, die das viel besser
konnten. Jetzt kann ich natürlich kleinere Sachen wie Blues oder Boogie spielen.
Frank Wunsch hat mir die Basis der Improvisation gezeigt.
Sch: Die Gründung des Jazzlabors 1971 zusammen mit Joe Viera war doch
eigentlich die erste Initiative in Deutschland für Jazz, nicht wahr?
S.: Für Jazzpädagogik vor allem. Mir lag daran, dass man das, was man kann, was
man lernt auch weitergibt. Leider ist es in Deutschland immer noch so, dass die
Künstler die Wissenschaftler verachten und umgekehrt und beide zusammen
verachten die Pädagogen. Das liegt aber auch an der funktionalen Trennung
zwischen den Instituten. Die Musikhochschule macht Musik, die Universität betreibt
die Wissenschaft, dazu hatten wir noch die PHs. Langsam jedoch kommt die Sache
in Fluss. Ich bin auch total begeistert von der IAJE, der International Association of
Jazz Educators in den USA mit 20000 Mitgliedern. Da gibt es eine Big Jazz Family
und nicht diese Gräben wie bei uns.
Sch.: Sie beantworteten gerade eine Frage, die ich noch stellen wollte, nämlich die
nach der Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlern und Praktikern im Bereich des
Jazz. Was hören wir als nächstes?
S.: Wir hören eine Kombination, ein crossover zwischen Jazz der WDR Big Band
und indischer Musik, mit Charly Mariano und Mike Herting featuring Karnataka
College of Percussion, das Stück heißt "City life" von der CD Sketches of Bengalor.
Sch.: Hier gehen also indische Musik und Jazz zusammen. Jetzt zu dem Dreischritt
Ihrer Karriere von der Klassik zum Jazz zur Weltmusik. Wann ist der Begriff
"Weltmusik" zum ersten Mal aufgetaucht?
S.: Es gab schon immer Übergriffe. Fangen wir mit der Musikgeschichte an. Nehmen
Sie die Gregorianik, die aus dem orientalischen Raum kommt. Nehmen wir den
Blues, der kommt aus Afrika. Es hat immer schon crossovers gegeben, wobei der
Begriff Weltmusik mittlerweile sehr kommerziell geworden ist. Es gab jetzt in der
Zeche Zollverein in Essen die WoMEx, World of Music Exposition, jede Musik ist
auch zum Verkauf bestimmt, ganz ohne Geld geht es nicht. Ich möchte noch Béla
Bartók und sein Buch "Musiksprachen" erwähnen. Hier findet sich ein Aufsatz über
den Rassismus in der Musik. Wer sich abschottet und nicht auf andere zugeht - das
gilt insgesamt für das menschliche Zusammenleben und nicht nur für die Musik -
jetzt wird immer von der Globalisierung gesprochen, die hat es auch immer schon
gegeben, nur wird das jetzt durch Internet viel manifester, die Welt ist ein "global
village" schrieb Marshall Mc Luhan, der kanadische Forscher, bereits vor
Jahrzehnten und wir müssen aufeinander zugehen. Bartók als Volksliedforscher hat
viel auf dem Balkan geforscht und in dem o.g. Aufsatz schreibt er: wer sich
abschottet stagniert. Und das müssen alle Menschen begreifen. Aus dem crossover
oder der Fusion entsteht dann wirklich etwas Neues. Die Indentitätsverlustängste,
die viele Menschen, auch Musiker, haben, müssen nicht sein. Wenn ich ein gutes
Selbstbewusstsein und eine gute Identität, auch musikalische Identität habe, dann
kann ich auf den anderen zugehen, dann kann ich mich öffnen, dann verliere ich
mich nicht selber, sondern dann gewinne ich noch etwas dazu. Und das gerade
gehörte Musikstück ist eine wunderbare Sache, die ich vor kurzem im Stadtgarten
gehört habe. Das Stück ist vor allem rhythmisch sehr interessant, man kann
Beziehungen zu Afrika bilden. Die sog. mnemotischen Silben am Anfang des Stücks
sind Rhythmussilben, die in die Musik eingebaut werden. Erinnerungssilben, die man
auch in Westafrika findet in der ganz berühmten Formel "kon kon kolo", die einen
Basisrhythmus darstellt. Und das gamala taki, das Karl Berger immer wieder in
seinem Institute of Creative Music verwendet, ist auch eine indische Grundlage.
Dieses crossover müssen wir fördern. Ich habe an der Musikhochschule in Köln eine
Afrika-Performance gemacht mit dem Jazzpianisten Hans Lüdemann und Ali Keita
von der Elfenbeinküste, der wunderbar Ballaphon spielt. Ich habe einige Stücke von
Abdullah Ibrahim gespielt, habe Texte von Lumumba, Senghor und Nkrumah
gelesen und die beiden Musiker haben dazu improvisiert. Dem Publikum habe ich
bei dieser Gelegenheit meinen Entschluss, ein Weltmusikinstitut an der Musikhochschule Köln zu gründen mitgeteilt. Hierfür gab es viel Applaus. Ich hoffe, dass ich das Rektorat überzeugen kann, die Jazzabteilung und die klassische Abteilung und bin auf der Suche nach Sponsoren. Zu VW habe ich schon Kontakt aufgenommen und das Konzept persönlich in Wolfsburg vorgestellt.
Sch.: Mit den öffentlichen Fördergeldern ist es nicht weit her in diesem Bereich.
Auch die Musiker sind eher freie Unternehmer und sind das gewöhnt. Aber auch im
akademischen Bereich passiert nicht sehr viel, oder?
S.: Es ist kein Geld mehr übrig, weil es falsch verteilt ist. Ich habe neulich in der ZEIT
den Hilfeschrei aus den USA gelesen: Hilfe, wir haben zu viel Geld! Ich will mal
sehen, wie ich an diese Millionäre, vielleicht sogar an Bill Gates, rankomme. Ein
ehemaliger Student, der sehr gute Jazzpianist Dieter Greifenberg, hat neulich für Bill
Gates gespielt. Das Gezerre und Gezetere hört natürlich sofort auf, wenn man die
Million für eine Stiftungsprofessur auf den Tisch legen kann. Ich kann sehr gut
betteln, denn ich will das Geld nicht für mich, ich will nichts mehr werden. Bei Coca-
Cola werde ich auch noch fragen.
Sch.: Sie sind eine berühmte Person geworden. Auch der Staat hat Ihre Verdienste
gewürdigt durch die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes. Eigentlich müsste man
sagen, dass mit Ihnen der Jazz in Deutschland vorankommt!
S.: Ich bleibe auch am Ball! Das Bundesverdienstkreuz habe ich bekommen für
meine Arbeit für die Völkerverständigung durch Musik. Musik kennt keine Grenzen
ähnlich wie die Ärzte ohne Grenzen. In Brasilien, Nigeria, Jordanien, Tunesien,
Japan, zuletzt in China, um nur einige Länder zu nennen. Der Veranstalter Wolfgang
Hinninghofen, ein Industrieller, hatte eine ganze Jazznacht für mich in Nigeria
organisieren lassen. Eine zweite Einladung für meine Band "Ilse and her Satchmos",
konnte aber wegen politischer Unruhen nicht umgesetzt werden. Bei einem
Aufenthalt in Venedig lernte ich in einem Hotel den Staatssekretär des tunesischen
Präsidenten Ben Ali kennen und stellte mich vor. Im Verlauf des Gesprächs kamen
wir überein, das Jazzfestival von Tabarka in Tunesien wiederzubeleben. Er meinte
später: "We created a baby in Venice", und dieses Baby kam dann mit Unterstützung
des tunesischen Tourismusministeriums 1996 zur Welt und war ein großer Erfolg.
Der o.g. Staatssekretär Salah Hannachi ist jetzt Botschafter in Tokyo und so kam ich
nach Tokyo, wo ich mit japanischen Musikern gespielt habe. Durch ein Interview des
WDR mit Herrn Dr. Curt Hondrich in der Sendung "Tischgespräche" bekam ich einen
Brief von Marijke Berkhoff-Freeling , die sich sehr engagiert für Kultur ohne Grenzen.
Sie schlug mir die Zusammenarbeit mit dem chinesischen Prof. Dong Jinming vor,
der 1998 in der BRD zu Besuch war. Wir haben zusammen Konzerte gegeben und
1999 war ich zum ersten Mal in China in Wuhan, Shanghai, Nanjing und Bejing. Die
Chinesen sind verrückt nach Jazz! Wir hören gleich das Stück "Horse Race" mit
Dong Jinming, der die zweisaitige Kniegeige, die Erhu spielt. Erst dachte ich, ich
würde ihn und sein Instrument mit meinen 88 Klaviertasten förmlich erschlagen, aber
aus diesen zwei Saiten ist unglaublich viel herauszuholen!
Sch.: Sie waren häufiger in China, einem Land, das politisch immer noch ziemlich
weit von uns entfernt ist. Es ist doch sicher gar nicht so einfach dort Kontakte zu
knüpfen, oder?
S.: Wieder eine Ihrer guten Fragen! Deng Xiaoping hat ungefähr vor 20 Jahren
China geöffnet. Es gibt seinen Ausspruch: egal ob die Katze kommunistisch oder
kapitalistisch ist, Hauptsache sie fängt Mäuse! Als ich 1999 zum ersten Mal nach
Wuhan kam, fand der 50. Jahrestag der Volksrepublik China statt. Ich war
überrascht, dass keine Mao-Plakate , sondern Coca-Cola und Mc Donald' s
Werbung überall zu sehen war. Das einzige Mao-Bild habe ich in Bejing gesehen.
Wuhan ist die Partnerstadt von Duisburg und die Universitäten der beiden Städte
sind immer noch partnerschaftlich verbunden, so dass alles wunderbar organisiert
war. Überall waren Spruchbänder aufgehängt mit Hinweisen auf die Universität
Duisburg, den Jazz und mit meinem Namen, und ich habe mich fast wie die Königin
von England gefühlt. Ich bin in den Universitäten, den Musikhochschulen und von
den Bürgermeistern empfangen worden; all dies zeigte, dass die Chinesen verrückt
nach Jazz sind. Z.B. in Nanjing an der South-East-University waren ca. 2000
Studenten versammelt. Ich gehe bei meinen Veranstaltungen immer gerne auf das
Publikum zu und mache concert lectures, d.h. ich spiele, gebe kurze Erläuterungen
zum Werk und zum Komponisten und dann stelle ich meine Definition des Jazz vor:
Jazz means vitality, coming from Africa; creativity durch die Improvisation; Partnerschaftlichkeit
und Demokratie. Die anwesenden Studenten brüllten vor Vergnügen.
Vor allem bei den Begriffen Freiheit und Demokratie.
Sch.: Sie bringen also neben Ihrem musikalischen auch politisches Engagement mit.
S.: Ja! Alle Diktatoren lehnen Improvisation als Ausdruck der persönlichen Freiheit
ab. Manchmal bin ich ein bisschen herbe in der Bezeichnung der Notation. Die europäische
Musik ist notiert und die Musik der sog. 3.Welt, Afrika, Lateinamerika, Indien
ist nicht notiert. D.h. sie ist total oral und kommt vom Gedächtnis her und ist
meistens eine ziemlich freiheitliche Musik. Die Notation ist manchmal wie ein Korsett.
Sch.: Sie sagten gerade, die Chinesen sind verrückt nach Jazz, also doch auch nach
westlicher Tonalität. Wir sind aber nicht unbedingt verrückt nach asiatischer Musik.
Für uns hört sich die dortige Chromatik doch eher katzenmusikartig an. Für uns leiert
das. Die indische Musik ist von der Chromatik, von den Skalen her ein Riesenunterschied
zur europäischen. Ein Vergleich dieser Musiken ist sicher für Sie als
Musikwissenschaftlerin sehr interessant.
S.: Ich habe sehr gerne chinesische Musik, die schon mit europäischer Musik
verbunden war, gespielt. Z.B. Yang Tse River enthält viele Brahmsklänge und die
bekannte Pentatonik. "Schlimm ist der sog. kulturelle Völkermord und der kulturelle
Kolonialismus". Ich zitierte soeben Alain Daniélou, der sich viel mit asiatischer und
speziell indischer Musik beschäftigt hat. Der Jahrhunderte alte Kolonialismus war ja
nicht nur politischer, sondern auch kultureller Art. Die Afrikaner durften ihre Musik
nicht spielen, mindestens 20 Millionen Afrikaner sind verschleppt worden nach Nordund
Südamerika und in die Karibik. Das einzige, was sie hatten, waren ihre Rhythmen
und die haben sie in ihren Körpern mit rüber getragen. Ich fühle mich fast wie
eine musikalische Missionarin, es muss Begegnungen geben, viele Begegnungen mit
den Kulturen aus anderen Ländern. Das ist wirklich eine ganz große Bereicherung.
Es ist auch gar nicht mehr aufzuhalten, denn die Globalisierung im guten Sinne ist in
vollem Gange. Wir brauchen echte Begegnungen auf menschlicher und musikalischer
Ebene.
Sch.: Warum klappt das gerade im Jazz so gut?
S.: Eines meiner Bücher trägt den Titel: Jazz meets the World. Jazz ist von Hause
aus bilingual, d.h. die rhythmischen Wurzeln kommen aus Afrika, die harmonischen
kommen aus Europa und diese beiden Strömungen treffen sich in den Südstaaten
der Vereinigten Staaten. Der Jazz ist also vom Ursprung her offen, er ist wie ein
"großer Schwamm", wie Brubeck einmal sagte, und kann all diese anderen
Strömungen mit aufnehmen. Es gibt einen weiteren Grund. Neulich hörte ich im
WDR den Schriftsteller und Nobelpreisträger Soyinka sprechen über Religion und
Politik in Afrika. Ich habe vergleichende Voodoo-Forschung betrieben - in Essen gibt
es übrigens ein Voodoo-Museum - und meine Erfahrung mit der Musik und den
Menschen in afrikanischen Dörfern, ist die, dass die Menschen sehr tolerant und
offen sind. Es gibt keinen Rassismus und auch die Religion hat immer andere
Religionen in sich aufgenommen und integriert. Und das macht der Jazz auch ohne
zu unterdrücken. Ich habe Ihnen ein Stück, Fourth Avenue Blues, mitgebracht von
Gerhard Kubik, dem besten Ethnologen der Welt. Er ist in Wien und in Afrika zu
Hause und der einzige Mensch, den ich kenne, der nicht Professor werden möchte,
er fährt lieber mit dem Fahrrad durch Afrika. Er hätte das Institut für Ethnologie in
Mainz übernehmen können, wollte aber nicht. Ich hatte ihn eingeladen und gebeten
über afrikanische Musik und den Blues zu sprechen. Das Stück stammt aus
Südafrika und vereinigt die beiden schon erwähnten Strömungen und gegenseitigen
crossovers, Rückkoppelungen, der afrikanischen und europäischen Wurzeln. Wir
hören Musiker, die Blues spielen mit pennywhistles, also Flöten, die aus
Johannisburg stammen.
Sch.: Wenn wir jetzt im Fernsehen wären, hätten wir "Swinging Ilse" live erlebt. Sie
können nicht sitzen bleiben bei dieser Musik. Sie haben ja die Entwicklung hinter
sich vom Faltenrock im Konzertsaal hin zum afrikanischen Gewand, Sie tragen eine
witzige Brille aus Miami mit Palmen am Rand. Sie haben sich auch einmal im
Ministerium gemeldet mit dem Gruß "Halleluja". Es hat sich in Ihrem Leben ganz viel
geändert.
S.: Ich finde, man sollte sich entwickeln. Wo steht geschrieben, dass man sich nicht
verändern, dass man nichts mehr lernen darf? Die Brille ist mein Markenzeichen für
das Fernsehen geworden. Als ich mich im Ministerium mit "Halleluja" gemeldet habe,
war zu Anfang Sendepause, die haben sich richtig erschrocken. Das ist doch ein
wunderbarer Gruß und inzwischen kennen die mich da. Es hat auch schon Veranstaltungen
gegeben, da wurde gefragt: "Wer hat Angst vor Ilse Storb?" Ich gehe
spontan auf die Menschen zu, umarme und küsse sie. Es ist an keiner Universität so
viel umarmt und geküsst worden wie in Duisburg.
Sch.: Erzählen Sie bitte noch etwas über das von Ihnen gegründete Jazzlabor.
S.: Das ist leider eine schreckliche Geschichte. Ich habe nach meiner Emeritierung
noch vier Jahre kostenlos weiter unterrichtet. Im Jahre 2000 las ich dann plötzlich in
der Zeitung, dass das Jazzlabor geschlossen wird. Daraufhin habe ich die Universität
enterbt, denn das Jazzlabor ist mein Lebenswerk, mein "Kind". Jetzt geht die für
Duisburg vorgesehene Million nach Köln an die Musikhochschule. Bei der Laudatio
der Oberbürgermeisterin von Duisburg anlässlich der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes an mich, rief Christa Übel, eine ehemalige Schülerin: "Ilse Storb hat so viel gemacht, über sie könnte ich ein Buch schreiben!" Aber das werde ich demnächst selber noch machen.
Sch.: Wo waren Sie noch nicht? Gibt es noch einen Kontinent, gibt es noch
musikalische Ecken für Sie zu ergründen?
S.: Ich fahre lieber nach Westen und nach Süden, wegen der Wärme und auch
wegen der Mentalität. Ich komme mit verschlossenen Menschen nicht so gut klar. Ich
bin eher ein mediterraner Typ. Ich denke, das ist auch auf meinen zweijährigen
Aufenthalt in Paris während meines Studiums zurückzuführen. Die Franzosen haben
ein ganz anderes Selbstbewusstsein als die Deutschen. Henning Christoph, der Leiter
des Voodoo-Museums in Essen fährt immer nach Cotonou in Afrika und baut dort
eine Klinik für Naturheilkunde, ein richtiger Albert Schweitzer. Von ihm weiß ich, dass
es dort eine wunderbare Jazz-Szene gibt, die mich noch sehr interessiert.
Sch.: Sie wollen noch ein Institut für Weltmusik gründen. Gibt es hierfür bereits
konkrete Pläne, gibt es Mitstreiter, die sich für Sie einsetzen?
S.: Meine Mitstreiter sind Prof. Dr. Jürgen Terhag, der Dekan der musikwissenschaftlichen Abteilung der Musikhochschule Köln sowie Prof. Küttner, der noch einen Lehrauftrag hat, aber inzwischen in Mannheim ist. Wir drei haben eine Studienordnung entworfen. Ich habe auch die Begründung für eine Stiftungsprofessur entworfen. Es muss wenigstens eine Professorenstelle eingerichtet werden. Sponsoren sind dringend erwünscht, auch kleinere Beiträge.
Sch.: Zum Schluss noch einmal zurück zu Brubeck, über den Sie Ihre
Habilitationsschrift verfasst haben. Sie haben eine Woche bei ihm gelebt, erzählen
Sie uns bitte davon! Wie war eigentlich die Reaktion der
deutschen Professorenschaft auf Ihre Habilitationsschrift? Waren die pikiert?
S.: Dave Brubeck ist ein wunderbarer und angenehmer Mensch. Er lebt in Wilton,
Connecticut in einem herrlichen Haus im japanischen Stil. Ich hatte während meines
Aufenthalts bei ihm und seiner Familie Gelegenheit lange mit ihm zu sprechen, um
Material für meine Arbeit zu sammeln. Was die Reaktion der Kollegen betrifft, so
waren die Klassiker nicht sehr interessiert. Aber als es hieß, Brubeck soll den
Ehrendoktor bekommen, musste ich natürlich Brubecks Werk und Wirken im Senat
der Universität vorstellen. Die Kollegen der anderen Fachbereiche wie Anglistik oder
Amerikanistik fühlten sich sehr geehrt, dass Brubeck diese Auszeichnung der
Gerhard-Mercator-Universität bekam. Auch der Rektor, der Physiker Prof. Dr. Born,
befürwortete die Sache.
Sch.: Was sind Ihre nächsten Pläne? Welche Reisen sind geplant? Wann sieht man
Sie wieder on stage?
S.: Silvester verbringe ich in Paris und werde dort Kontakte knüpfen zu den
Orientalischen Instituten. Ich spiele auch mit Sahbi Amara, Orient meets Occident, er
spielt arabische Lautenmusik, ich spiele andalusische Klaviermusik. Im Januar bin
ich beim 30. Jahrestag der International Association of Jazz Educators und werde
einen Vortrag halten über Weltmusik, Weltinstitute in den USA und Europa. Es gibt
in Rotterdam ein Weltmusikinstitut, dort ist die Atmosphäre total tolerant und offen.
Es gibt da gleichmäßig verteilt 100 Dozenten für Jazz-, Rock-, Pop- Weltmusik und
100 Dozenten für Klassik.
Sch.: Vielen Dank für Ihren Besuch beim Deutschlandfunk in Berlin und für Ihr
flammendes Plädoyer für die Weltmusik. Wir hören zum Schluss Arturo Toscanini und
das WDR Symphonieorchester mit Claude Debussys "Aus dem Nachmittag eines
Fauns".

Prof. Dr. Ilse Storb
Bredeneyer Strasse 44, D-45133 Essen
Fon: +49-201-41 10 79
Fax: +49-201-42 50 21
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