Tischgespräch

Ilse Storb im Gespräch mit Dr. Curt Hondrich
Aufzeichnung des WDR Radio 5 vom 28.3.1996

H.: Heute aus dem Cafe Bistro "La Lavalier" in der Kölner Innenstadt. Zu Gast bei
Curt Hondrich ist Ilse Storb, von der es heißt, sie sei die einzige Jazzprofessorin in
Europa. Stimmt das?
S.: So lange man mir nicht das Gegenteil beweist, kann ich das behaupten. Darüber
hinaus steht es im WHO IS WHO. Ich komme viel auf Kongresse in Europa, in
Amerika, in Schweden u.s.w. Dort erlebe ich das immer wieder, dass ich die einzige
Professorin auf dem Gebiet der Jazzwissenschaft und Jazzpädagogik bin. Im
künstlerischen Bereich ist es natürlich anders. Da gibt es vor allen Dingen
Vokalistinnen und Instrumentalistinnen, aber im jazzwissenschaftlichen Bereich ist
es halt immer noch so.
H.: Also das heißt, an den klassischen Musikhochschulen? Oder Musikschulen?
S.: Insgesamt, an den Musikhochschulen und auch an den Universitäten.
H.: Gibt' s die auch im künstlerischen Bereich?
S.: An den Universitäten ist der künstlerische Bereich nicht so weit ausgebaut. Z.B.
gibt es in Köln das Collegium Musicum. Ich habe mich früher manchmal wirklich
gefragt, ob der hochverehrte Prof. Dr. Karl-Gustav Fellerer, bei dem ich promoviert
habe, überhaupt ein Instrument spielt. Und dann hieß es, doch, doch, der spielt gut
Cello. Aber das ist natürlich völlig anders, als an den Musikhochschulen, weil man
das leider in Deutschland immer trennt. Und das finde ich nicht so gut, Musik an der
Musikhochschule, Musikwissenschaft an den Universitäten und die Pädagogik
seinerzeit an den Pädagogischen Hochschulen. In Amerika wird das viel mehr
ganzheitlich koordiniert.
H.: Ich habe mal hier in Köln einen Studenten getroffen, der hatte Mathematik
studiert. Und als er fertig war, war ich überrascht, dass der weiter zur Uni ging. Und
da habe ich gefragt: was machst Du denn noch an der Uni? Und da sagte er: ich
studiere jetzt Musikwissenschaft. Das heißt, er konnte kein Instrument. Er studierte
jetzt separat Musikwissenschaft. Halten Sie das für möglich?
S.: Ja, also ich höre da schon mal abenteuerliche Dinge, dass die Musikwissenschaftler
nur Bücher lesen über Musik und dann wieder das, was sie aus den
Büchern gelernt haben, wieder zusammentragen, teilweise noch nicht mal die Musik
selbst hören. Ich halte das für sehr fatal. Ich denke, es muss ein Musikwissenschaftler
unbedingt auch ein Instrument spielen, am besten Klavier, weil das ein Allround-
Instrument für Melodik, Harmonik und Rhythmik ist. Und ich denke auch, dass
umgekehrt - und das bedauere ich immer so sehr, dass man da nicht zusammenkommt
- der Musiker auch wissen sollte, was er da spielt, und analytisch tätig sein
sollte. Und ein guter Musiker wird das auch machen. Er muss ja nicht unbedingt
Bücher schreiben. Ich möchte ergänzen, dass er auch unterrichten sollte. Denn
wenn ich jetzt den hochqualifizierten, Diplomkomponisten oder Jazzmusiker
ausbilde, der dann nur für sich alleine auf der Bühne steht, wo bleibt da die Vermittlung?
Ich bin also eine ganz überzeugte Pädagogin, nicht im Sinne von nur
Schule oder Hochschule, sondern im Sinne der Vermittlung, z.B. auch im Rundfunk.
Informativ sein, gute Vermittlung bringen. Wie sagen die Amerikaner? Edutainment!
Education und Entertainment, d.h. Vermittlung und Unterhaltung miteinander
verbinden.
H.: Ilse Storb, ist das denn überhaupt nötig bei der Musik? Muss man Musik
pädagogisch vermitteln? Wenn ich mir das so anhöre, was ich täglich im Radio höre,
was ich in Konzerten höre, muss man denn Musik vermitteln? Das ist doch eine von
den wenigen Künsten, die uns unmittelbar auf der Gefühlsebene anspricht.
S.: Wenn Sie ein Instrument gut spielen wollen, müssen Sie das Handwerk lernen,
und da gehört sehr viel dazu. Ich kann mich entsinnen, als ich Musik studierte hier in
Köln im Alten Funkhaus, Dagobertstraße, da haben wir am Tag sechs Stunden
geübt für das Instrument. Nun hatte ich Klavier als Wahlfach und wollte natürlich
einen guten Abschluss machen. Das hat auch sehr gut geklappt, Gott Sei Dank. Also,
Sie müssen das Handwerk zunächst einmal gut beherrschen. Und dann kommt in
der Klassik entschieden die Interpretation dazu, sonst ist das nicht möglich. Ich
vermute, Sie sprechen die Technomusik und solche Dinge an?
H.: Nein überhaupt nicht. Sie sprachen darüber, Musik zu vermitteln, auch im Radio,
und da sind Pädagogik und gute Information wichtig.
S.: Das ist manchmal etwas ärgerlich, was da aus dem Rundfunk rauskommt. Auf
WDR 5, wir sind ja hier auf WDR 5, vielen Dank für die Einladung, da gab es mal
den sog. "Dudelfunk". Ich habe Ihrem Intendanten, Herrn Pleitgen, mehrfach
geschrieben: ich bedanke mich, dass Sie diesen "Dudelfunk" abgeschafft haben und
dass jetzt so wunderschöne Wortsendungen kommen, ich bin begeistert. Nicht nur
Wortsendungen und auch ausgesuchte Musiksendungen. Ich denke mal, ein guter
Redakteur sollte auch wissen, was gute und schlechte Musik ist.
H.: Woher weiß er das? Das ist ja nun ein alter Streit. In einer Pressenotiz über
diese Sendung habe ich geschrieben: sie weiß, was gute Musik ist. Da hat ein
Musikkollege mich angerufen und gesagt: sag mal, woher weiß sie das denn? Das
wüsste ich so gerne.
S.: Ja wenn man nun so viel Musikwissenschaft studiert hat, wie ich, Musik macht
und auch vermittelt, dann müssen Sie sich überlegen, wie man so eine Unterrichtsstunde
gestaltet und vor allem wenn man Musiklehrerstudenten ausbildet, was man
ihnen sagt. Denn wenn Sie sich abends hinsetzen und überlegen: gebe ich jetzt den
Kindern oder den Jugendlichen Beethoven oder Techno zu hören? Was mache ich
denn da? Natürlich, sehr wichtig, den Schüler oder den Studenten abholen da, wo er
ist, nicht überfahren, diktatorisch sein, das hat natürlich überhaupt keinen Sinn, den
Schülern oder Studenten gegen ihren Willen etwas beibringen zu wollen. Ja, da muss
ich Herrn Carl Dahlhaus zitieren, einen der berühmten Musikwissenschaftler aus
Berlin. Er hat dieses wunderbare Buch geschrieben: Analyse und Werturteil. Es gibt
das Werturteil und es gibt das Sachurteil. Die meisten Menschen sind musikalisch
nicht sehr gebildet. Sie geben dann ein Werturteil von sich. Fragen Sie mal
jemanden, der aus dem Konzert kommt: wie war' s denn? Ja schön! Dann sage ich:
warum war es denn schön, warum hat es Dir denn gefallen? Weiß ich auch nicht.
War schön, war schön. Dahlhaus sagt nun, es muss auch ein Sachurteil geben und
er beruft sich auf die Analyse. Und dazu gehört Wissen über Melodik, Harmonik,
Rhythmik, Form, Sound, Technik etc., und er sagt kurz zusammengefasst: gute
Musik sollte innovativ sein, differenziert und trotzdem kontinuierlich Das ist natürlich
ganz allgemein gesprochen. Mehr kann man wohl dazu nicht sagen, denn man
möchte die Musik nicht vergewaltigen.
H.: Ja. Aber da gibt es natürlich unter Fachleuten auch divergierende, also
auseinandergehende Meinungen über Musik, die wohl sachlich begründet sind.
S.: Das gibt es immer, sonst würde man ja auch in der Diskussion nicht weiterkommen.
Ich habe studiert an dem Musikwissenschaftlichen Institut, Universität zu
Köln, und bei dem bereits erwähnten Prof. Dr. Fellerer über Debussy promoviert.
Danach gibt es noch den langen Weg von der Klassik zum Jazz. Ich kam mit Dave
Brubecks "Take Five" (Teamwork mit Paul Desmond) und da wurde mir gesagt von
einem Kollegen: was ist das denn? Jazz, Take Five? Ja, kann man das denn
überhaupt analysieren? Oh ja, man kann es analysieren, aber im Bereich Jazz,
Anfang der 70er Jahre, war das noch Pionierarbeit. Da fing man in Deutschland erst
an mit der Jazzforschung. Besonders in Graz mit der Internationalen Gesellschaft für
Jazzforschung. Weil nämlich, wie wir wissen, die Nazizeit den Jazz verhindert hat als
entartete Musik, Niggermusik, und die Musikwissenschaft leider immer noch euroum
nicht zu sagen germanozentriert ist: Bach, Beethoven, Brahms.
H.: Wir machen ja auch immer noch diese merkwürdige Unterscheidung zwischen E
- ernster Musik und U - Unterhaltungsmusik.
S.: Diese unglückliche Unterscheidung! Aber ich habe langsam den Eindruck, das
ist eine Geschäftssache, eine Gema-Angelegenheit. Ich habe Herrn Prof. Banter mal
gefragt: sagen Sie mal, wieso ist denn Free Jazz U - Musik? Ja, weiß ich auch nicht!
Denn das ist ja wirklich Avantgarde, nähert sich der freien improvisierten Musik an.
H.: Ja, das ist wohl wahr. Das hat der Jazz nun immer getan, improvisiert. Das ist
eines seiner Merkmale.
S.: Ja, die Improvisation ist - um Gunter Schuller zu zitieren - the Heart and Soul of
Jazz, also Herz und Seele der Jazzmusik. Gunter Schuller, der am New England
Conservatory, Boston, das sog. Third Stream Department begründet hat. Das führt
eben gerade Klassik und Jazz zusammen. Und darüberhinaus indische Musik und
ähnliche Musiksprachen.
H.: Beaux Arts Strings mit dem Modern Jazz Quartet zusammen, z.B.
S.: Ist das nicht wunderbar. Also bin ich für diese Idee des cultural exchange sehr
dankbar, da fühle ich mich fast als "Missionarin".
H.: Hat das bei Ihnen auch ein Zusammentreffen gegeben von Klassik und Jazz?
Ich kann das fast datieren; 1955 habe ich ein Konzert mit dem Modern Jazz Quartet
gehört. Ich war Bach-Anhänger und ging mal dahin um zu schnuppern und hörte
eine klassisch gebaute Fuge, die das Modern Jazz Quartet spielte. Und dieses Stück
hat mich für den Jazz begeistert, weil da eben noch mehr war außer der kunstvoll
gebauten Fuge. Ich will mal sagen: der Bauch kam mit in Form von Rhythmus und
swing.
S.: Das Afrikanische kam dazu. Hier kann ich gleich mal meine nigerianische
Trommel mit einbauen.
H.: Das ist ja toll!
S.: Da gibt es natürlich viel zu erzählen. Um auf Ihre Bemerkung einzugehen. Ich
könnte das noch interpretieren, wenn Sie möchten. Die Grundlage der afrikanischen
Musik ist die Polyrhythmik, die Polymetrie, die Spannung zwischen beat und off-beat.
Wenn das dazukommt, dann wird die Musik lebendiger und das ist auch das, was
mich beim Jazz so sehr begeistert hat, weil ich denke, der Jazz ist eine vitale,
kreative und partnerschaftliche Musik. Vital wegen der afrikanischen Rhythmen,
kreativ wegen der Improvisation und partnerschaftlich-demokratisch wegen der
Zusammenarbeit. Wenn Sie eine Combo haben, dann ist eine ausgesprochene
Interaktion vorhanden, haben Sie aber ein Symphonieorchester: da gibt es den
Generalmusikdirektor. Ich sage immer: alles hört auf mein Kommando! Es ist schon
ein großer Unterschied da. Das ist interessant, dass Sie sagen: ich bin über das
Modern Jazz Quartet zum Jazz gekommen, denn viele Menschen kommen durch die
Verbindung von klassischer Musik und Jazz hier in Europa zum Jazz. In Amerika
wächst man sowieso mindestens zweisprachig auf: mit Klassik und Jazz.
H.: Können Sie eigentlich fixieren, wann Sie für den Jazz gewonnen worden sind?
S.: Ich habe mich eigentlich für den Jazz früher überhaupt nicht interessiert. Ich bin
ja 1929 geboren und da war noch die Hitler-Zeit, und man konnte gar nicht mit Jazz
zusammenkommen. Ich hatte nichts gegen Jazz, aber ich kannte den Jazz gar
nicht. Und dann hatte ich meine erste Stelle an der Marienschule in Essen-Werden,
bei den Töchtern vom Hl. Kreuz, also sehr kloster-like, und da war der Jazz natürlich
auch nicht erwünscht. Es kamen aber Schülerinnen mit Spirituals, mit Aufnahmen
von Mahalia Jackson, geistliche Musik wenn man so will, das Gegenstück zum
Blues. Und da habe ich gedacht: warum solltest du dir das nicht mal anhören. Das
habe ich auch getan, bekam aber nicht so einen direkten Kontakt dazu. Ich bin in
Paris z.B. zu einem Louis Armstrong Konzert gegangen, habe mir ein Autogramm
geholt, weil ich Autorgrammjägerin war. Den eigentlichen Ausschlag hat gegeben die
Gründung der Internationalen Gesellschaft für Jazzforschung in Graz, Austria, im
Jahr 1969, und ich sah in der Universität einen Aushang. Man soll sich ja immer das
Schwarze Brett genau angucken! Mein Gott, das kann doch wohl nicht wahr sein,
Musikwissenschaft und Jazz! Wenn die beiden Fraktionen sich mal nicht erschlagen!
Ärmel hochgekrempelt und nichts wie hin! Und da merkte ich, das war eine
völlig andere Atmosphäre, als bei der Gesellschaft für Musikforschung, zu der ich
immer damals hüben und drüben, Fulda und Dresden etc., gefahren war. Vor mir
saß der Präsident der Hamburger Musikhochschule, Prof. Dr. Hermann Rauhe, und
der sagte zu mir: Sie, Sie, Sie machen Jazz und Pädagogik! Ich kratzte mir den
Hinterkopf und überlegte, Pädagogik - die Kunst anderen gegen ihren Willen etwas
beizubringen, aber Jazz?? Ich konnte seinerzeit kein Alt- vom Tenorsaxophon
unterscheiden. Dann kam dieses Namedropping dazu - Gerry Mulligan, Charlie
Mingus, und ich dachte: oh Gott, oh Gott, halt die Klappe, denn du hast keine
Ahnung. Und dann war noch jemand da, der sagte: Jazz ist Live-Musik! Sie müssen
ein Konzert oder ein Festival erleben! Das nächste war in Berlin 1969, und das war
der siebzigste Geburtstag von Duke Ellington.
H.: Dazu muss man vielleicht einen Satz sagen. Einer der großen Jazzkomponisten,
der über den Jazz hinaus bekannt, konzertante Musik geschrieben hat.
S.: Ja, es gibt auch geistliche Konzerte von ihm, einem der ganz großen Jazzkomponisten.
Ich saß in der Philharmonie und hörte Thelonius Monk, den Pianisten,
ein Tribute to Duke. Es waren also lauter Pianisten, ich meine Cecil Taylor und
Joachim Kühn, und ich hatte Pressekarten and "I got four kisses from the Duke". Die
Atmosphäre war lockerer, als bei den Musikwissenschaftlern. Ich bekam also vier
Küsse one - two - three - four - from the Duke. Und ich entsinne mich, dass Monk
spielte, der ja einen ganz eigenen Klavierstil hat mit Sekundeinwürfen, für klassische
Ohren klingt das unterbrochen und falsch, unzusammenhängend, nicht kontinuierlich,
um Herrn Carl Dahlhaus zu zitieren. Ich fing förmlich an zu beten, damit
dieser Mensch nicht aus der Philharmonie rausgeworfen wurde. Ich habe mich
später natürlich mit dem Stil von Monk eingehend beschäftigt und dann wußte ich,
das ist sein Markenzeichen, das ist sein Stil. Und das habe ich wirklich mit meinen
klassischen Ohren und Vorstellungen, Vorurteilen muß man da fast sagen, völlig
falsch eingeschätzt.
H.: Sie haben sich doch in der klassischen Musik um einen Musiker gekümmert, der
ähnlich schräg war für damalige Ohren!
S.: Ja, mit Debussy. Ich darf noch einen Satz hinzufügen: und dann war ich in Berlin
Feuer und Flamme und habe gedacht: wie bringst du das in die Musiklehrerausbildung
hinein, da ich doch zunächst keine Ahnung vom Jazz hatte. Und dann wurde
mir von einer Freundin - Kunsterzieherin - gesagt: in München, da sitzt Joe Viera,
und der ist sehr erfahren. Dann habe ich mich mit ihm zusammengesetzt. 1971
haben wir beide das Jazzlabor für die Musiklehrerausbildung gegründet. Das ist eine
lange Geschichte, auf die wir ja noch kommen können. Sie wollten auf Debussy zu
sprechen kommen.
H.: Ja, ich würde gerne auf Debussy eingehen. Sie sind ausgebildete Pianistin, Sie
haben Piano studiert und sich um die klassische Musik gekümmert, eigentlich bis
1969, nicht wahr? Nichts anderes als klassische Musik gemacht? Und Sie haben -
und das hat mich etwas überrascht - wie ich es bei Ihnen nachgelesen habe, sich
sehr früh für den französischen Kulturbereich interessiert, neudeutsch nennt man
das frankophon. Sie haben Musikwissenschaft und Romanistik studiert. Wieso
eigentlich? Sie sind in Essen in der britisch besetzten Zone geboren, hier wurde
Englisch an den Schulen unterrichtet. Wieso also Romanistik?
S.: Da hat wirklich der Unterricht bei einem Französischlehrer sehr viel ausgemacht,
der ein ausgezeichneter Pädagoge war und ein Vollblutfranzose, obwohl Deutscher.
Ich weiß noch, wie der uns die Phèdre von Racine vorgeführt hat: "diese Frau, die
strotzt doch vor Saft!" Wir haben natürlich damals gar nicht kapiert, was gemeint war.
Ich will nur die Vitalität dieses Menschen schildern, und die ganze Klasse war
verknallt in diesen Lehrer, ich glaube er hieß Tielmann. Ich war so begeistert von der
französischen Sprache durch diesen Lehrer. Lehrer haben ja auch immer
Vorbildcharakter. Ich darf Pestalozzi zitieren: der Lehrer sei Liebe und Vorbild! Das
gibt es zuweilen heute auch noch. Und ich denke, dass das ausschlag-gebend war
für das Studium der Romanistik.
H.: Sie haben auch an der berühmten Sorbonne in Paris studiert. Haben Sie da Ihre
Neigung für Debussy entdeckt?
S.: Das ist noch ein bisschen anders gelaufen. Eigentlich war das in Köln. Ich war
zwei Mal in Paris. Ich habe ein Jahr zunächst Französisch studiert; da musste ich hier
an der Musikhochschule Köln unterbrechen. Und weiß noch, dass damals der Prof.
Mies, so ' ne echte Kölsche und Leiter der Schulmusikabteilung, sagte: jehn se
dahin, jehn se dahin! Da lernen se nix! Er meinte jetzt aber auf den Bereich der
Schulmusik bezogen. Er hat mir dann aber die Adresse von einem Sorbonne-
Professor gegeben. So, nun war ich ein Jahr da, um Französisch zu lernen, weil ich
merkte, ich sitze zu Hause über der Madame Bovary von Flaubert drei Monate und
schlage jedes Wort nach und dann habe ich meinen Eltern erklärt: ich muss nach
Paris, denn ich verbringe mein ganzes Leben und kann immer noch kein Französisch!
Um Gottes Willen! Zu unserem Erzfeind! Der Krieg war gerade erst vorbei.
Und vor allen Dingen wurde mir gedroht: du kommst mit einem Baby zurück! Und da
stand auf Abtreibung noch Gefängnis, die Pille gab es nicht. Doch ich habe gesagt:
so ein Unsinn! Ihr hättet mich mal lieber aufklären sollen! In ganz Bredeney hieß es:
Paris ist das Sündenbabel. Und dann kam der Hausarzt und sagte: och, in Essen-
Bredeney kann sie auch ein Kind kriegen. Da habe ich mich dann durchgesetzt und
habe ein Jahr Französisch studiert an der Alliance Francaise und der Sorbonne.
Nach Debussy hatten Sie gefragt. Die Erleuchtung hatte ich hier in der Musikhochschule.
Ich spielte: "Jardins sous la Pluie", Gärten im Regen vom Debussy, und
das war für mich gehörmäßig eine erste Offenbarung wegen dieser Parallelakkorde.
Diese Akkorde waren in der klassischen Harmonielehre verboten. Wir bekamen
immer von Prof. Lehmacher die Oktav- und Quintparallelen als falsch angestrichen.
H.: Wir hören mal in ein Stück von Debussy rein, das Sie mitgebracht haben.
S.: Ja, das ist jetzt allerdings Gollywogg' s Cakewalk, eine Annäherung von
Debussy an den Jazz, denn die Franzosen, Milhaud, Debussy, auch einige
Deutsche, z.B. Hindemith, haben sich dem Jazz geöffnet. Lassen wir die Musik ein
bisschen wirken!
H.: Prima, so hört sich das also an. Das ist jetzt schon ein später Debussy.
S.: Da fragen Sie mich nach einer Jahreszahl. Ich habe kein Verhältnis zu Zahlen,
das müsste ich also nachschlagen. Das muss ein später Debussy sein, denn der
Einfluss des Jazz war so um 1917/18 herum und Debussy ist 1918 gestorben.
"Jardins sous la Pluie" fand ich so fantastisch und habe es mit großer Wonne
gespielt. Und dann gab es hier in der Universität zu Köln Ausschreibungen für
Stipendien von der französischen Regierung. Die waren sehr sehr schwer zu
bekommen. Ich habe mich halbtot geärgert, weil es mir ein paar Mal nicht gelungen
ist, eines zu erhalten. Da ich aber bereits in Frankreich gewesen war und inzwischen
schon fließend Französisch sprach und ein Projekt hatte, nämlich eine Doktorarbeit
über einen "musicien franVais", wie er sich selber nennt, einen französischen
Musiker, da ist es mir gelungen, durch diese strenge Kommission durchzukommen
mit einem sehr guten Gutachten von Herrn Prof. Dr. Fellerer. Dann hatte ich ein
Stipendium, ein Jahr in Paris zu verbringen, an der Sorbonne, Bibliothèque
Nationale, Institut du Musicologie, und konnte dann die Doktorarbeit vorbereiten. Ich
habe jeden Tag in der Bibliothèque Nationale gesessen, aber auch um die Praxis
aufzugreifen bei Yvonne Lefébure und Vlado Perlemuter Klavierunterricht gehabt.
Perlemuter ist ein persönlicher Freund von Ravel. Ich habe dann Musik von Ravel
studiert, und das hat alles die französische Regierung bezahlt. Ich wohnte in einem
Hotel, in dem fast nur Musiker waren. Rue M. Le Prince. Es gab Klaviere in jedem
Zimmer. Das war himmlisch und da konnte man Trio spielen. Es war eine schöne
Zeit, Brahms, Schubert und ähnliche Komponisten einzustudieren.
H.: Sie sind immer noch ganz begeistert davon! Wenn ich Sie so ansehe, Sie
leuchten richtig!
S.: Ja, Paris ist meine zweite Heimat. Und ich bin immer noch von der Klassik sehr
begeistert.
H.: Spielen Sie auch noch für sich?
S.: Ich spiele auch weiterhin Klassik und bereite zusammen mit einer Sängerin eine
CD und Konzerte vor - von der Klassik zum Jazz. Wir fahren demnächst nach
Tunesien. Ich war vergangenes Jahr schon in Tunesien, in Tabarka, da gab es
früher ein Festival, welches ich in Zusammenarbeit mit tunesischen Regierungsstellen
wiederbelebt habe.
H.: Wo Sie beide Seiten zusammenführen?
S.: Ja, das ist überhaupt meine Idee, dass man Menschen verschiedener Kulturen
und Sprachen, verschiedener Musiksprachen zusammenführt. Also einen cultural
exchange, einen kulturellen Austausch durchführt.
H.: Sie sind das lebende Beispiel der grenzenlosen Musik, im Wortsinne. Musik
kennt keine Grenzen. Sie toben ja durch die Welt.
S.: Ja, kreuz und quer. Ich war in Brasilien eingeladen vom Staden-Institut, in
Nigeria von einem Industriellen, Wolfgang Hinninghofen, den ich dankbar erwähnen
möchte, und dieses Jahr wird es wahrscheinlich wieder ein kleines Festival in
Tunesien geben. Zur Vorbereitung fliege ich bald nach Tunis. Dort gibt es dann
verschiedene Konzerte auch mit tunesischen Musikern zusammen, mit Mohammed
Saada und einer Gruppe von 13 Künstlern. Es ist von dem Staatssekretär Salah
Hannachi geplant, die tunesischen Musiker und uns Europäer zusammenzubringen.
Mohammed Saada spielt Nai, eine Bambusflöte, und Roseau, Roseau ist das
Schilfrohr, man denke an die Fabel von La Fontaine "Die Eiche und das Schilfrohr".
Das ist also eine zauberhafte Flöte, und ich bin ganz gespannt, was er in Sidi Bou
Said in der Nähe von Tunis mit seiner Gruppe auf seiner Flöte hervorzaubern wird.
H.: Das wird also ein Konzert sein, in dem es einzelne performances, einzelne
Vorstellungen gibt, nicht gemischt, so dass so etwas wie Improvisation stattfindet.
S.: Diese Frage gefällt mir ganz besonders gut. Ich kenne Mohammed Saada noch
nicht. Vorgesehen ist zunächst: in der Kathedrale von Karthago ein Gospelkonzert.
Das haben wir schon vergangenes Jahr in der Nähe von Tabarka gemacht; dann ein
Konzert mit dem eben erwähnten Mohammed Saada. In den römischen Arenen von
Jendouba gibt es dann Jazz, Spirituals und vier Jahrhunderte französischer
Klaviermusik und Literatur. Ich habe laut aufgeschrien: drei Konzerte an einem
Abend! D.h. zunächst Auszüge, um sich kennen zu lernen und dann möchte ich gerne
- ich hoffe, dass das klappt - etwas mit den Arabern improvisieren. Inspiriert wurde
ich durch die Komposition von George Gruntz " Noon in Tunisia". Ich meine jetzt
nicht "A Night in Tunisia" von Gillespie, dem großen Trompeter, der vor kurzem
gestorben ist und über den ich z.Zt. ein Buch schreibe. "Noon in Tunisia" wurde in
Tunesien aufgenommen. George Gruntz war lange Leiter der Berliner Jazztage und
improvisiert mit europäischen und tunesischen Musikern. Dies wird ein Schnupperaufenthalt
der Diskussion und des Kontaktierens. Wie Staatssekretär Salah
Hannachi sagt: ein Aufenthalt, der mit wundervoller Arbeit verbunden ist.
H.: Mich wundert das. Sie reden von Thelonius Monk als einem dieser Anstöße, die
Sie in den Jazz gebracht haben. Sie haben sich mit Dave Brubeck beschäftigt, über
den wir noch reden werden. Sie erzählen von diesem Workshop, der in Tunesien
stattfinden wird. Sie haben ähnliche Workshops gemacht in Brasilien und in Nigeria
und sich immer auch diesen Kulturen gestellt. Das hört sich alles - ich sage mal
klassifizierend - progressiv an. Doch nun wünschen Sie sich ein Stück, das mit Louis
Armstrong zu tun hat. Von Fats Waller: "Black and Blue". Wir hören es uns mal an
und reden gleich noch darüber.
Das war "Black and Blue" von Fats Waller, gespielt von "Ilse and her Satchmos". Sie
haben auch selbst gesungen, etwas überraschend für eine deutsche Professorin.
S.: Ja! Irgend jemand von der Gesellschaft für Jazzforschung sagte einmal zu mir:
ah so, ein weiblicher Louis Armstrong! Natürlich kann man Louis Armstrong nicht
imitieren, dies ist ja auch nur zur Demonstration.
H.: Dieses Stück ist ja nicht von Louis Armstrong.
S.: Ja, aber er hat es viel gesungen. Es liegt ihm auch sehr am Herzen und es liegt
auch mir sehr am Herzen. Ich habe es mir gewünscht, denn es geht da um
Rassendiskriminierung. Ich kann immer noch nicht verstehen, warum ein Mensch
anderer Hautfarbe, anderer Rasse, anderer Religion, anderer Nationalität oder
anderen Geschlechtes diskriminiert wird. Verstehen kann ich es nicht, aber die
Erklärung ist wahrscheinlich Machtausübung. Alle menschlichen Verhältnisse haben
etwas mit Machtausübung zu tun. Darum ist das für mich fast auch eine missionarische
Idee, mich dem Jazz zu widmen, weil das eine akkulturierte Musik ist aus
europäischen und afrikanischen Elementen und weil das die Menschen zusammenführt.
Dave Brubeck hat mal gesagt: "Jazz is a huge sponge", ein großer Schwamm,
der andere Musikkulturen mit aufnimmt und dahinter steckt die Idee der Völkerverständigung.
Und wenn Armstrong sagt: "I' m white inside", innen bin ich doch weiß,
was soll ich denn tun, warum bin ich denn überhaupt geboren - ich kann doch nichts
dazu - mit dieser Hautfarbe. Ich habe natürlich auch viele Freunde, afrikanische und
afro-amerikanische, für die ich dann immer eintreten möchte.
H.: Wenn Armstrong so etwas sagt, dann ist das ja bereits ein verinnerlichter
Rassismus. Warum hat Armstrong es denn nötig zu sagen, ich bin innen weiß?
S.: Vielleicht will er das ein bisschen ausgleichen. Armstrong war ja auch ein sehr
guter Entertainer und das ist sehr wahrscheinlich auch ironisch gemeint. Innen bin
ich genauso wie ihr, meine Seele ist ganz genauso. Warum soll ich denn schwarz
sein? Ich bin nicht der schwarze Mann. Wenn man verfolgt, wie auch heute noch
Rassendiskriminierung sprachlich ausgeübt wird! Ich habe auch viele Seminare
gehalten mit dem Kollegen Jäger aus der Soziolinguistik über Neofaschismus,
Rassismus, Sexismus im Diskurs der Musik.
H.: Das ist doch sehr spannend. Also hat Musik für Sie auch etwas mit politischen,
mit Machtverhältnissen zu tun?
S.: Das denke ich. Nehmen Sie Free Jazz und Black Power. Der sog. Freie Jazz hat
sich auch zusammengetan mit der Black Power Bewegung.
H.: Das war die große amerikanische Befreiungsbewegung der Schwarzen.
S.: Ja, die schwarze Befreiungsbewegung: Malcolm X mit der etwas gewalttätigen,
und Martin Luther King mit der friedfertigen Version. Ich habe deswegen auch
unbedingt auf die CD aufgenommen: "We shall overcome", die Hymne der
Schwarzen, der Friedensbewegung. Vor allem die Schwarzen haben versucht,
herauszukommen aus dem Management, aus dem Geschäftswesen, aus der
Unterdrückung. Es war so, dass die Musiker spielten und dass sehr häufig die
Weißen das große Geld machten.
H.: Und das hat mit Machtverhältnissen zu tun, denken Sie? Das ist eine Form von
Ausbeutung?
S.: Ja! Wer das Geld hat, hat die Macht und wer die Macht hat, gebraucht sie auch.
H.: Ist das denn bis heute so geblieben? Im Jazz wird ja nicht so wahnsinnig viel
Geld verdient, weil er nicht diese Breitenwirkung hat, etwa wie Popmusik oder
andere moderne Musikrichtungen.
S.: Es ist immer eine kleine Sparte gewesen. Wenn ich mit meiner Formulierung
komme: vital, kreativ, partnerschaftlich, dann ruft immer einer aus der Gruppe: and
non profit-oriented, nicht profitorientiert. Und trotzdem, ich zitiere noch einmal Dave
Brubeck - und der hat ja nun großen Erfolg, auch finanziell. Er hat allen seinen
Söhnen gesagt: werdet nicht Jazzmusiker. Und sie werden alle Jazzmusiker! Aber
sie müssen alle kämpfen. Vielleicht ist dieser Kampf um die Existenz auch wie ein
Stachel im Fleisch, wie Jean Paul Sartre mal sagte. Ein Beamter - nichts gegen die
Beamten - der regelmäßig sein Geld bekommt, der sagt sich vielleicht: na heute
mache ich mal nicht so viel. Aber wenn ich wirklich um die Existenz kämpfen muss,
wie ich das auch bei ehemaligen Studenten sehe, die vielleicht ins Management
oder ins Theater gehen, Starlight Express oder Berliner Theater, oder Weltenspiele
machen wie hier ein Student in Köln, die also wirklich schuften müssen, die sind
dann aber auch kreativ. Das gibt auch einen Anstoß, weil sie eben nicht ihr
geregeltes Gehalt bekommen.
H.: Und nicht mehr in den Schuldienst kommen, weil keine Lehrer eingestellt
werden.
S.: Oder auch manchmal nicht in die Schule wollen. Ich sage mal was Böses: die
Besten gehen oft nicht in die Schule, sondern machen eigene kreative Gruppen auf.
Dieses Beispiel habe ich jetzt gerade am Sonntag erlebt. Ich nenne mal den Namen,
weil der junge Mann es wirklich verdient hat, Ralf Werner, führt zusammen, was mir
so am Herzen liegt, nämlich die verschiedenen Kulturen. Eine chinesische Harfinistin
mit einem African Drummer, einen französischen Saxophonisten und Werner spielt
Violoncello. Musik und Tanz, alles zusammen, Weltenspiele, eine wunderbare
Sache.
H.: Sind Sie stolz auf Ihre "Kinder"?
S.: Also wenn ich so etwas erlebe, ja! Dann bin ich sehr froh und versuche das auch
zu fördern. Ich habe mich auch mit einem Verlag in Verbindung gesetzt. Die Arbeit
von Ralf Werner über die Violine im Jazz soll herauskommen beim Lit-Verlag in
Münster. Ich habe auch versucht, über Liliputs und Käpt'n Blaubär etwas
anzuzetteln, Ralf Werner macht Jugend- und Kindertheater.
H.: Sind das Ihre "Kinder"? Oder haben Sie eigene?
S.: Nein. Das war wohl nicht möglich. Wenn man Beruf und Familie miteinander
verbinden will, als Frau, dann ist das für meine Begriffe unmöglich. Ich habe mir
schon als Kind gesagt, als ich Mutter arbeiten sah in Küche und am Herd, das wird
nicht gehen. Du musst Dich 20 Jahre um die Kinder kümmern. Ich wurde bei einem
Jazz-Kongress in Los Angeles gefragt: warum gibt es so wenig Frauen im Jazz?
Können Sie das mal begründen? Ganz einfach, Mr. Graham Collier vom London
Royal Conservatory, ich werde Ihnen zehn Thesen liefern! Ich nenne sie jetzt nicht
alle. Number one: werde nicht schwanger; number two: heirate nicht; number three:
liebe Konflikte; number four: setze dich ein, mache selber etwas! Wie soll das denn
gehen? Soll man die Kinder unter den Flügel kehren und sagen: seid schön still! Also
ich denke, es geht nicht.
H.: Sind Sie die Nonne der Musik? Sie heiraten nicht, haben keine Kinder, Sie sind
mit der Musik und Ihrem Beruf verheiratet?
S.: Also Herr Hondrich, was verstehen Sie denn unter Nonne? Music is my mistress,
ich war nie verheiratet. Neulich sagte eine Frau zu mir: ich warte auf meinen Mann.
Und ich sagte: ich brauche nicht auf einen Mann zu warten, ich habe keinen. Ich
sage manchmal etwas frech: ich habe keinen Mann, aber ich hatte viele Männer.
Aber wir wollen ja hier nicht öffentlich auf mein Liebesleben eingehen.
H.: Nein, das sicherlich nicht. Aber es ist doch total spannend, wie Sie sich mit
Ihrem Beruf identifizieren, das ist ja fast wie eine Missionsaufgabe.
S.: Ja, das kann man wohl sagen. Ein Kollege aus der Kunst, Uni Duisburg, sagte
einmal zu mir: wer sich so total identifiziert mit dem Jazzlabor, der ist auch
grenzenlos ausbeutbar. Ich lasse mich gerne für den Jazz ausbeuten, aber ich
möchte natürlich auch gerne selber dabei sein. Ich war vor kurzem in New York bei
dem Verleger, bei dem nach meinem Buch über Dave Brubeck jetzt mein Buch über
Louis Armstrong herauskommt, und der sagte: wir möchten Sie gerne benutzen! Und
ich sagte: wonderful, do that! Für den Jazz tue ich das gerne! Mein Leben für den
Jazz! Das ist meine Maxime.
H.: Darauf trinken wir! Prost!
S.: Prost! Nächste Maxime, Louis Armstrong: ich möchte die Menschen glücklich
machen mit meiner Musik.
H.: Was mich ganz fasziniert ist, woher kommt denn das? Woher kommt diese
Totalität in Ihrem Leben? Dass Sie sagen: das ist es und sonst nichts! Denn das ist
natürlich etwas Wunderbares, erfüllt zu sein von einer Aufgabe.
S.: Herr Hondrich, dies ist nicht "Das Wort zum Sonntag". Aber Sie wissen, dass
Menschen einen enttäuschen können, und man ist immer wieder erstaunt, dass man
enttäuscht wird. Die Musik bleibt, die enttäuscht einen nicht. Wo kommt das her?
Von meiner Mutter. Der sog. pränatale Einfluss. Sie hat mir erzählt, als sie mit mir
schwanger ging, 1929 in Essen, da hat sie immer Klavier gespielt, und ich denke,
dass das einen Einfluss hatte.
H.: Was waren Ihre Eltern?
S.: Mein Vater war Volksschullehrer und meine Mutter hatte zwar schon einen
Beruf, Telegrafenassistentin 1913. Als sie heiratete, hat sie den Beruf natürlich
aufgegeben. Die Ausbildung meines Vaters damals als Volksschullehrer war so:
Klavier, Orgel, Gesang, Geige, alles gehörte dazu. D.h. im Elternhaus wurde auch
sehr viel Musik gemacht.
H.: Daher auch Ihre Neigung zur Musik. Aber Sie haben vorhin ein Wort zweimal
gebraucht im Zusammenhang mit Frauen, Heiraten und Kindern: natürlich! Ihre
Mutter hat natürlich den Beruf aufgegeben, als sie geheiratet hat. Schließt sich das
für Sie so aus? Es gibt ja heute massenweise Frauen, die es zu verbinden
versuchen.
S.: Fragen Sie mal die Kinder, was die dazu sagen. Ich finde das ganz schwierig.
Ich habe auch Freundinnen, die Kinder groß gezogen haben. Wenn Sie jetzt an
meinen Beruf denken, etwas flapsig gesagt: ein Bein in Afrika, ein Bein in Amerika,
wann geht der nächste Bus nach New York? Wie soll das gerade mit kleinen Kindern
gehen? Oder wie soll das mit pubertierenden Kindern gehen? Die brauchen doch
ihre Mutter! Es mag in anderen Ländern vielleicht schon besser sein. Ich habe eine
tschechische Freundin, deren Eltern beide berufstätig waren, gefragt: und wo warst
Du? Ihre Antwort: Im Kinderhort! Bin ich seelisch verkrüppelt? Nein, habe ich gesagt,
wenn es genug Kindertagesstätten gibt! Aber das ist ja ein Problem in Deutschland,
ein Thema für sich. Fragen Sie Frau Süßmuth
H.: Sie sehen diese Frage also auch sozialpolitisch. Warum tuen Sie das? Wollen
Sie Vorbild sein für Frauen, die sich für den Beruf entscheiden?
S.: Das ist schwer zu beantworten. Ich werde natürlich oft gefragt: bedauerst du das
nicht, dass du keine Familie, keine Kinder hast? Schon! Aber wenn es doch nicht
möglich ist! Ich denke, alle kommen zu kurz dabei. Der Mann, die Kinder, der Beruf.
Man ist irgendwie zwei- oder dreigeteilt.
H.: Sie denken also, dass man sich entscheiden muss. Nicht romantisch vor den
Entscheidungen stehen bleiben kann und sich alle Möglichkeiten offen hält, sondern
sich entscheiden muss: entweder ich mache das oder das. Was ja heute versucht
wird ist, alles gleichzeitig zu haben und zu machen.
S.: Ich denke, das geht nicht. Das geht auf Kosten aller Beteiligten
H.: Geht es auch auf Kosten der Qualität dessen, was man tut?
S.: Vorübergehend sicher. Sie können ja nicht sechs Stunden am Tag üben, wie
das hier vor dem Schulmusikexamen in Klavier notwendig war, wenn Sie kleine
Kinder haben. Wie soll das denn gehen? Das ist ja ausgeschlossen! Ich entsinne
mich an eine Szene aus einem Theaterstück von Dario Fo. Da sagt die Mutter eines
Morgens: wo ist mein Baby? Und steckt ihr Baby in den Eisschrank, weil sie so
durcheinander ist, so hektisch, immer am Rand ihrer Kräfte, dass sie nicht mehr
weiß, was sie tut. Ich denke, es geht nicht.
H.: Lassen Sie uns über ein Kind sprechen, das sicherlich Ihr Kind ist: nämlich das
1971 von Ihnen in Duisburg gegründete Jazzlabor. Was ist das?
S.: Die Bezeichnung "Kind" kommt vom Oberbürgermeister Josef Krings, das ist ein
ganz liebenswerter Mensch. Mein Kind, das Jazzlabor, wird jetzt 25 Jahre alt, und wir
machen eine große Jubiläumsfeier im Audi Max der Gerhard-Mercator-Universität
in Duisburg. Freier Eintritt und für alle zugänglich. Das Jazzlabor wurde gegründet
als Institut im Institut und im Rahmen der Musiklehrerausbildung in Praxis und
Theorie. D.h., man spielte ein ganz zentrales Instrument, z.B. das Saxophon,
Trompete oder Posaune. Dann kam die praktische Arbeit in der Combo dazu. Ich
habe eine Big Band gegründet und jetzt noch eine zweite, allerdings nur noch im
Studium Generale. Im Jazzlabor wurden auch Vorlesungen und Übungen gemacht
über Jazzgeschichte, den soziokulturellen Kontext des Jazz , also z.B. die Rassendiskriminierung, und der dritte Teil ist dann die Didaktik. Wie bringe ich das bei? Ich habe ein Buch geschrieben mit dem Titel: Jazz in der Schule, erschienen im SIL, Staatliches Institut für Lehrerfort - und weiterbildung, mit einer Musikkassette dazu. Das ist eine Art Rezeptologie: man nehme Louis Armstrong, man nehme Miles Davis. Ich musste das so machen, weil viele Lehrer in Deutschland keine Ahnung vom Jazz haben und das Buch wird auch verschiedentlich angewendet, u.a. auch in
Musikschulen.
H.: Warum ist Ihnen der Jazz denn da so wichtig? Warum genügt es denn nicht,
wenn man klassische Musik in der Schule lehrt?
S.: An dieser Stelle noch mal meine Definition: der Jazz ist vital, kreativ, partnerschaftlich.
Ich will nicht sagen, dass die Klassik unvital ist. Aber wenn ich mir vorstelle,
wie die Klassik beigebracht wird, Sie haben das Notenblatt vor der Nase, d.h.,
Sie sind irgendwo schon gebunden an die Interpretation, die Metronomzahl u.s.w.,
alles was vorgeschrieben ist, Melodik, Harmonik, Rhythmik. D.h., die Vitalität, die
Spontaneität, die Ursprünglichkeit, die durch den afrikanischen Rhythmus entsteht,
fehlt mir eigentlich bei der Klassik. Die Kreativität und die Improvisation hat es ja in
der Klassik gegeben, man denke nur an die Barockmusik, an Beethoven, der ein
großer Improvisator war, Bach sowieso, und an die evangelische Kirchenmusik. Aber
normalerweise eben nicht in der Klassik. Für mich bedeutet Jazz Freiheit und das
finde ich genau so wichtig wie die Partnerschaftlichkeit, nämlich dieses demokratische
Verhalten. Wenn ich Proben mache mit meiner jetzigen Big Band im Studium Generale, überlegen wir gemeinsam, wie wir das Arrangement gestalten oder was wir noch einfügen können. Und dieses demokratische Verhalten fehlt mir halt weitgehend bei der Klassik.
H.: Und das üben Sie mit den Studenten, mit den künftigen Musikpädagogen? Die
gehen ja dann in verschiedene Bereiche, in Schule, Theatermanagement, oder Journalismus.
Sie üben das also, indem Sie auch praktisch mit ihnen spielen. Nämlich
mit den Gruppen: "Ilse and her Satchmos" und der Big Band der Uni Duisburg.
S.: Ja, die Big Band wird jetzt geleitet von Reinhard Glöder. Die Big Band, die ich
jetzt noch habe, gehört zum Studium Generale. Und jetzt kommt die Tragödie, denn
ich musste den Fachbereich Musikpädagogik 1992 einstellen, um nicht zu sagen
"schlachten". Ich habe gekämpft wie eine Löwin, im Landtag mit Demonstrationen.
Ich habe immer flapsig gesagt: ich habe jeden Politiker bekniet, der mir vor die Nase
kam: das Jazzlabor, das Jazzlabor! Zusammen mit dem Rektor der Uni Duisburg und
dem Ministerium ist es mir gelungen, ein Zentrum für Musik und Kunst zu retten, das
ist aber nur ein Studium Generale. Und ich hoffe immer, dass vielleicht doch noch
mal wieder ein Studiengang eingerichtet wird, dass mindestens dieses Jazzlabor
bleibt und gefördert wird.
H.: Weil Sie inzwischen emeritiert sind?
S.: Ja, seit August 1994. Mein Nachfolger steht noch nicht fest, aber soviel kann ich
sagen: das ist eine Spagatprofessur zwischen der Folkwang-Hochschule, Essen und
der Universität Duisburg. Eine Verbindung von Theorie und Praxis, denn die
Folkwang-Hochschule bildet Diplom-Jazzmusiker aus und in Duisburg ist jetzt nur
noch das Studium Generale. Es muss also eine Persönlichkeit sein, die integrativ
wirkt und die Interesse hat an Pädagogik, sprich an der Vermittlung und an der
Erwachsenenbildung. Ich hoffe sehr, dass das jemand wird, der kooperativ und
integrativ arbeitet.
H.: Ich habe den Eindruck, dass man bei dem Gespräch schon etwas davon merkt,
welches Energiebündel Sie sind und auch von Ihrem Drive. Sie haben dafür gesorgt,
dass Dave Brubeck, Komponist und Jazzmusiker, der Klassik und Jazz miteinander
zu verbinden gewusst hat und kurz bei Arnold Schönberg gelernt hat, in Duisburg die
Ehrendoktorwürde erhalten hat.
S.: Ja, natürlich zusammen mit dem Rektorat und weiteren zuständigen Instanzen.
Das war ein großer Kampf, denn die klassischen Kollegen wollen ja immer einen
deutschen Komponisten haben. Mir ist es dann doch gelungen, weil ich Brubeck
sehr gut kenne. Ich habe 17 Jahre über die Improvisationen und Kompositionen von
Brubeck gearbeitet und meine Habilitationsschrift verfasst, die auch in New York
erschienen ist. Wie ist es zu dem Ehrendoktor gekommen? Dave Brubeck war
immer sehr kooperativ, nicht nur was die Musiksprachen anbetrifft, sondern auch
was die menschliche Kommunikation anbelangt. Ich habe das besonders feststellen
können, als ich eine Woche in Connecticut im Hause Brubeck eingeladen war und
dort wohnen konnte. Er hat nicht nur Klassik und Jazz zusammengefügt, sondern er
hat darüber hinaus auch, was man heute Weltmusik nennt, z.B. japanische,
afghanische, türkische Musik zusammengefügt. Ein ganz berühmtes Beispiel ist das
"Blue Rondo à la Turk". Blues, Rondo und türkischer Aksak, ein 9/8 Rhythmus.
H.: Brubeck steht ja eigentlich dem entgegen, was Sie mit Ihrer Combo, den
"Satchmos" machen. Das ist eine ganz andere Musik, das ist sehr traditioneller
Swing und Brubeck hat doch eigentlich mit dieser World Music interkulturelle Musik
geschaffen.
S.: Die Idee der interkulturellen Wechselbeziehung ist der Untertitel meiner
Habilitationsschrift. Brubeck hat - und das ist hier wenig bekannt - zusammen mit
Louis Armstrong ein Broadway-Musical verfasst: " The Real Ambassador," der wahre
Botschafter des Jazz. Um noch mal auf die Rassendiskriminierung zurückzukommen.
Es gibt ein Lied, das heißt:" They say I look like God." Da singt Louis
Armstrong: man sagt, ich sähe wie Gott aus. Ist Gott schwarz oder weiß? Und da
antwortet er etwas witzig:" I think he must be a zebra ". Schwarz und weiß zusammen.
Es ist auch interessant, in diesem Stück wird verbunden gregorianischer
Gesang - die Musikwissenschaft möge uns verzeihen - mit Blues. Die erste
europäische Musikform mit der Quelle des Jazz, nämlich mit dem Blues in einem
Stück. Das ist bestimmt symbolisch gemeint.
H.: Sie kennen Dave Brubeck persönlich und verehren ihn sehr?
S.: Ja, als Menschen und auch als Musiker. Und wenn wir das Stück "The Duke
meets Darius Milhaud and Arnold Schönberg" noch hören, möchte ich gerne zu
Schönberg und Milhaud etwas sagen. Dieses Stück ist nämlich gewidmet Duke
Ellington, dem Zwölfttöner Arnold Schönberg und Darius Milhaud, dem polytonalen
Komponisten. Als Dave Brubeck den Ehrendoktor bekam, habe ich es sogar im Audi
Max gespielt und Dave Brubeck war sehr zufrieden.

Prof. Dr. Ilse Storb
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